„Milan Pešl und Irina Ries zeigten im Bruchwerk-Livestream mit dem Stück „Atmen“, dass Theater auch in Krisenzeiten für die Menschen da sein kann.
Siegen. „Du sprichst über deine Gefühle“, sagt sie. „Tut mir leid“, sagt er. „Nein, das ist toll“, erwidert sie lachend. Dieser Dialog-Ausschnitt kann beinahe stellvertretend stehen für das gesamte Theaterstück „Atmen“ von Duncan Macmillan. Das Bruchwerk-Theater Siegen machte am Donnerstagabend das Drama zwar digital, aber doch ergreifend nah erfahrbar. Aufgrund der aktuellen Kontaktbeschränkungen verlagerten die Siegener Theatermacher die szenische Lesung in einen Youtube-Livestream. Kostenlos, gleichwohl spendenbasiert. Auf der minimalistischen Bühne saßen die beiden einzigen Darsteller auf einem Sofa, voneinander getrennt durch eine verschwommen-durchsichtige Folie. Ausgestattet mit Text und Mikrofon, wurden die beiden unterstützt von eingespielten Hintergrundgeräuschen, was an ein Hörspiel erinnerte.
Emotionales Gewitter durch den Bildschirm
Die Geschichte der beiden Figuren ist geprägt von vielen Emotionen und sehr eingängigen Textpassagen. Anfangs ein wenig holprig, läuft es bald rund mit dem ungewohnten Textwerk. Es scheint beim Zuschauen, als sei man als unsichtbarer Beobachter in einen intimen Dialog geplatzt. Mitten hinein in ein Gespräch, das um ein Thema kreist, das in den meisten Beziehungen früher oder später aktuell wird: Man spricht über Kinder. Ist es gerechtfertigt, in die heutige Welt ein Kind zu setzten? Es „dem Ganzen“ (der Umweltverschmutzung, dem CO2-Gehalt der Atmosphäre …) auszusetzen? Das ist der Tenor, der in jeder Silbe mitschwingt und der Bezug nimmt auf die jetzige Lage, ob beabsichtigt oder nicht.
Authentisch und lebensnah
Das junge Paar – er Musiker, sie Studentin – ist mit seinen Sorgen erfrischend authentisch. Die Gespräche sind feinfühlig und schwer emotional. Doch sie erwecken beim Zuschauer das Gefühl, als ob ein Leben lang ein Tonband mitlaufen würde, dessen einzelne Streifen hier zum Vorschein kommen, so lebensnah und gefühlvoll ist es bis zum Schluss. Irina Ries und Milan Pešl überzeugen so in ihren Rollen, dass man, wenn man die Augen schließt und sich ganz auf die Geräusche und Stimmen einlässt, die beiden Charaktere lebhaft vor sich stehen sieht. Mit zurückhaltender, aber akzentuierter Gestik und Mimik unterstreichen die beiden Darsteller die emotionale Zerrissen- oder Verbundenheit, ganz wie es die Szenen verlangen, bis zum Schluss. Das Spiel scheint wie gemacht für eine Lesung, und auch durch den Stream ist man ergriffen von der emotionalen Nähe des Stücks. Ähnlich sehen es auch viele andere Zuschauer, die während und nach dem Stück viele lobende Worte haben.
Zuschauer in Livechat eingebunden
Nach dem Stück hatte das Publikum die Möglichkeit, im Chat Fragen an das Darsteller-Paar zu richten, was gerne genutzt wurde. Milan Pešl, künstlerischer Leiter des Theaters, kündigte bei dieser Gelegenheit an, dass jetzt jeden Donnerstagabend ein Stream geplant sei. Mal theatralisch, mal musikalisch (in der kommenden Woche). Erneut hat das Team des Bruchwerks mit einer großartigen Vorstellung bewiesen, dass Theater auch in diesen ungewissen Zeiten für die Menschen da sein kann.“
von Florian Broda, Siegener Zeitung 03.04.2020