GIESSEN – (ts). „1850 brutto?!“ – den Mitgliedern der Gießener CDU-Fraktion sind vor Staunen die Augen und Ohren aufgegangen, als sie in ihrer Sitzung in dieser Woche Besuch von einer Schauspielerin hatten, die kein Blatt vor den Mund nahm. Irina Ries brachte ihnen in einem engagierten Vortrag nahe, wie schlecht bezahlt die meisten Schauspieler an öffentlichen Theatern in Deutschland sind. Die beiden Gewerkschaften des künstlerischen Personals, Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) und Vereinigung deutscher Opernchöre und Bühnentänzer (VdO), haben mit dem Deutschen Bühnenverein auf Arbeitgeberseite vereinbart, dass die Mindestgage für das künstlerische Personal seit 1. Januar auf 1850 Euro im Monat steigt – brutto, versteht sich.
„Die Mindestgage bleibt skandalös niedrig“, heißt es in einer Pressemitteilung der beiden Gewerkschaften. Daher müssten in den kommenden Verhandlungen weitere Fortschritte für die Betroffenen erzielt werden. So sieht es auch die in Gießen lebende Irina Ries, die seit anderthalb Jahren Mitglied der GDBA ist und es sich nun zur Aufgabe gemacht hat, die politische und kulturinteressierte Öffentlichkeit darüber zu informieren, „dass hier etwas verbessert werden muss“. Dem Tarifvertrag liegen 44 Wochenstunden zugrunde; das sind 10,51 Euro pro Stunde, also knapp über dem Mindestlohn. Nach den Erfahrungen der Schauspielerin können aus den 44 Stunden aber schnell 54 Stunden werden, denn Tätigkeiten wie beispielsweise Stücke lesen, Rollen lernen und sich körperlich fit halten, seien nicht berücksichtigt. Was einem Schauspieler alles zugemutet werde, zeige auch das Beispiel, dass sie sich an einem Theater (nicht am Gießener Stadttheater) sogar für die Vorstellung selbst habe schminken und frisieren müssen.
„Die 1850 Euro werden mancherorts angeboten, egal, wie viel Berufsjahre der Künstler hat, und unabhängig vom Standort des Theaters“, erläutert Irina Ries im Gespräch mit dem Anzeiger. Und dies gelte nur für ein festes Engagement. Für Gäste existiere bisher noch kein vernünftiger Basisvertrag, der die Arbeitszeit regele oder angemessene Gagen anbiete. Nach ihrer Ansicht müsste es ein gestaffeltes Gagensystem geben, das zumindest die Berufserfahrung als Schauspieler und den Wohnort einbeziehe. Sie ist für klarere Rahmenbedingungen, „damit die viel beschworene künstlerische Freiheit nicht zur Ausnutzung der mit Herzblut Beteiligten führt“. Als die in Wiesbaden geborene Schauspielerin vor zehn Jahren am Gießener Stadttheater debütierte, lag die Mindestgage bei 1550 Euro brutto. Bis 2011 spielte sie als festes Ensemblemitglied im Haus am Berliner Platz und im damaligen TiL. München, Eisenach, Marburg, Meiningen und Wiesbaden waren die nächsten Stationen. Seit einem Jahr ist die mit dem Posaunisten Alexander Schmidt-Ries vom Philharmonischen Orchester Gießen verheiratete Schauspielerin von Gießen aus freischaffend tätig.
Rückendeckung nötig
„Ein ungelernter Angestellter des Bundes bekommt bei einer 41-Stunden-Woche genauso viel wie wir mit einem vierjährigen Studium an der Schauspielschule und einem Diplom in der Tasche“, macht sie deutlich. Damit sich ihre Situation und die ihrer Kollegen verbessert, hat sie sich der bundesweiten Aktion „40 000 Theaterschaffende treffen ihre Abgeordnete“ angeschlossen. Begonnen hat alles damit, dass die Oldenburger Schauspielerin Lisa Jopt in einer E-Mail ihre Kollegen überall im Land dazu aufgerufen hat, die Gespräche nicht nur in der Kantine zu führen, sondern die Themen und Wünsche nach außen zu tragen. Dies war die Geburtsstunde des in ganz Deutschland aktiven „Ensemble-Netzwerks„.
Irina Ries hat daher hessische Landtagsabgeordnete unterschiedlicher Parteien angesprochen. Schnell reagierte Klaus Peter Möller von der CDU, indem er sie nach einem Gespräch in kleinster Runde zur Sitzung der CDU-Fraktion einlud. So erfuhren die Gießener Christdemokraten, wie es um das künstlerische Personal an deutschen Theatern bestellt ist. Die gut präparierte Referentin konnte dabei auch noch weitere Zahlen ins Feld führen: Bund, Länder und Gemeinden geben im Jahr zwei Milliarden Euro für die Theater aus; das sind aber gerade mal 0,2 Prozent ihrer Gesamtausgaben. „Neben dem Bühnenverein tragen also auch die Rechtsträger der Theater mit ihrer Weigerung, die Theater auskömmlich zu finanzieren, die Verantwortung“, so die GDBA in ihrer Pressemitteilung. „Allen voran auch der Bund“, ergänzt Ries, „jetzt brauchen wir Rückendeckung von der Gesellschaft, wenn wir die Tarifverträge verbessern wollen“. Die öffentliche Hand müsse ihre Investitionen für Kultur, Bildung und Sport deutlich erhöhen, so ihr Fazit, denn eine mündige Gesellschaft brauche mehr denn je offene Räume für Diskussionen. „Wenn es keine Theater mehr gibt, gibt es niemanden mehr, der der Gesellschaft den Spiegel vorhält.“