„Bei Anruf aus Gießen Konzert und große Freude“, Bericht von Heiner Schultz

„Zu Ostern war diesmal nichts wie immer, auch nicht in Gießen. Dort hatten sich nämlich Musiker des Stadttheater-Orchesters etwas Schönes einfallen lassen. Unter dem Motto „Bei Anruf Konzert“ gaben sie Menschen am Telefon ein Konzert.

Irina Ries und Alexander Schmidt-Ries haben Riesenspaß im eigenen Wohnzimmer.

GIESSEN. Zu Ostern war diesmal nichts wie immer, auch nicht in Gießen. Dort hatten sich nämlich zahlreiche Musiker des Stadttheater-Orchesters etwas Schönes einfallen lassen. Unter dem Motto „Bei Anruf Konzert“ gaben sie Menschen am Telefon ein Konzert, richtig live und ganz exklusiv. Der Anzeiger hörte genau zu.

Unter der Woche war das Ganze gut vorbereitet worden. Hornist Martin Gericks organisierte die Einrichtung einer Telefonnummer im Theater, auf einer Internetseite standen die wünschbaren Titel bereit. Die Profis erhielten eine Liste von Nummern und Namen, die sie dann am Samstag zwischen 12 und 18 Uhr zurückriefen.

Die erste Station waren Ina Füss und Stefan Schneider. Sie hatten Stücke für Violine und Gitarre vorbereitet. „Guten Morgen, hier ist Ina Füss vom Stadttheater, Sie hatten einen Wunsch für Klara?“, sagt die Violinistin kurz nach 12 Uhr freundlich ins Telefon. Eine ganz junge, aufgeregte Stimme antwortet und ruft Klara ans Telefon. Sie sei gerade 19 Jahre alt. Füss und Schneider haben schon alles vorbereitet, Noten auf dem Ständer, und kurz bevor der Reporter kam, spielten sie alles nochmal durch. „Wir spielen jetzt Oblivion von Piazzolla“, sagt Füss, und dann geht’s los. Zart und anmutig klingt es, wirklich sehr schön, Schneider hat den Titel eigens für diesen Anlass mit Violine und Gitarre arrangiert, eine echte Premiere, und einen Soundcheck mit dem Nachbarn gemacht. „Hat’s gefallen?“ fragt Füss hinterher, und Klara antwortet, „Wunderschön, es hat uns toll gefallen, vielen, vielen Dank. Leider sind wir nur zu weit, da fiel unser Beifall nicht so groß aus.“ Die Musiker lächeln fröhlich: „Uns hat es total viel Spaß gemacht, für Sie zu spielen“. Auf der Liste stehen noch ein paar Nummern, und die beiden wollen auch noch einige Freunde überraschen.

Nächster Halt: Liebigstraße. Posaunist Alexander Schmidt-Ries und Irina Ries (Gesang) haben eine lange Liste von Wünschen erhalten. „Ohrenstöpsel brauchen Sie nicht,“ sagt Schmidt-Ries. „Wir spielen das ganz leise.“

Und tatsächlich, beim ersten Konzert für eine Familie in Waldsolms mit „Gabriellas Sång“ aus dem Film „Wie im Himmel“ ist alles im Lot. Die klare Sopranstimme erfüllt mit der eingängig volksliedhaften Weise das große Wohnzimmer, und die Posaune schwebt einfach sanft und melodisch mit. Auffällig ist die professionell engagierte Art und Weise, in der auch dieses Duo auftritt, denn für sie sind es ja Auftritte vor Publikum, auch wenn sie ihre Zuhörer nicht sehen. Anschließend warten sie gespannt auf die Reaktion. „Es war wirklich ganz toll“, hört man aus dem Smartphone. „Mein Mann hat das Stück vom Chorsatz für Posaune und Begleitung umarrangiert“, sagt Irina Ries fröhlich lächelnd, schon wieder eine Premiere. „Wir wünschen Ihnen frohe Ostertage“, fügt Schmidt-Ries hinzu.

Es gab alle möglichen Arten von Wünschen: Manche wollten es für sich selbst, für die Kinder, die man nicht besuchen konnte oder für eine ehemalige Opernsängerin im Heim in Annerod. „Die Liste zeigt, dass es einige Leute gibt, die verschiedene Ständchen bekommen,“ sagt Schmidt-Ries. „Und manche haben sich das auch gegenseitig geschenkt. Wir haben offiziell insgesamt 26 Anrufe heute. Aber natürlich haben sich auch unsere Eltern etwas für sich und für Freunde gewünscht.“ Dem Nachbar unten drunter haben sie einen Kuchen gebracht, weil der heute so viel wiederholte Musik hören muss. „Immerhin haben wir vier Titel im Programm und nicht nur einen“, meint Alexander Schmidt-Ries.

Nächster Anruf: bei Familie Schneider in Gießen, die Gershwins unsterbliches „Summertime“ hören möchten. Kein Problem, die beiden bringen es erstklassig rüber und spitzen hinterher die Ohren. „Sie haben uns sehr fröhlich gemacht“, kommt es nach dem Beifall von den Schneiders, die Künstler strahlen.

Aus Werdohl im Sauerland von der Tochter der Familie Jansen kommt der nächste Wunsch, „Always look on the bright side of life“ aus dem Monty-Python-Film. (Schmidt-Ries: „Das ist die Kreuzigungsszene“), und hinterher bedanken sich Frau und Herr Jansen herzlich: „Eine ganz tolle Idee war das, vielen Dank und schöne Ostertage.“ Wer sich zwei oder mehr Titel wünscht, bekommt die auch gespielt. „Wenn wir den Leuten damit eine Freude machen, gerne“, sagt Irina Ries.

Auch ihren Nachbarn tun sie in diesen Zeiten etwas Gutes, wenn sie nämlich immer sonntags kurz nach 18 Uhr („Wenn die Glocken aufhören“) auf dem Balkon spielen. „Morgen zum vierten Mal. Erst zwei Strophen „Ode an die Freude“ und dann was von uns.“ Die Nachbarn sind sehr angetan, sagt Schmidt-Ries, „Wir haben den Text vorbereitet und verteilt. Das ganze Karree bis zur Wilhelmstraße hört immer zu, und viele singen mit,“ freut sich seine Frau. „Man kommt so tatsächlich ins Gespräch und lernt die andern kennen.“ Dieser Ostersamstag wurde jedenfalls durch das Engagement der Orchestermusiker für eine große Zahl von Menschen besonders erfreulich. Und für die Musiker selbst auch.“

Von Heiner Schultz, GAZ, 14.04.2020

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